Wilfried liegt in dem Bett am Fenster. Draußen wird es langsam dunkel. Der EKG-Monitor gibt alle paar Minuten Alarm. Die Schmerzen in der Brust sind nun meist erträglich. Es ist Herbst, die Nacht kommt, und Wilfried spürt es, er weiß es, er wird nicht mehr lange hier liegen müssen, mit Kabeln, Sauerstoffmaske, Pinkelflasche. Umgeben von verstörten Schwesternschülerinnen, abgeklärten Pflegern, Assistenzärzten und Reinigungskräften. An diesen typischen Krankenhausgeruch nach Desinfektionsmitteln und Exkrementen, den er früher so schrecklich fand, hat er sich diesmal ganz schnell gewöhnt. Es ist ja nur für eine kurze Zeit. Das weiß er.
Vor ihm liegt wie ein der Abgrund das völlig Unbekannte, ein schwarzes Loch. Er hat Angst, und er fühlt sich unendlich verlassen. Er will etwas sagen, mit jemandem sprechen, aber er bekommt kein Wort heraus. Es würde ihm sowieso keiner zuhören, geschweige denn verstehen oder gar helfen können. Er könnte versuchen, den Krankenhausseelsorger kommen zu lassen. Doch der würde ihm wahrscheinlich nur etwas von Sünden und Vergebung erzählen, von Beichte und von einer letzten Chance, mit Gott ins Reine zu kommen. Das will Wilfried aber alles nicht mehr hören. Er fühlt sich ausgeliefert und hilflos wie ein verlassenes Kind. Er wünscht sich nur etwas Schutz, ein bisschen Geborgenheit. Er sucht in seiner Erinnerung nach diesem Gefühl, nach dieser Erfahrung. Bilder ziehen durch seinen Kopf, kleine Szenen aus der Kindheit, Momente mit seiner Mutter, mit dem Vater. Es erscheinen die Schulfreunde, seine erste Liebe. Die Kameraden in der Wehrmacht, damals, im Krieg.
Dieses Gefühl der Verlorenheit und die damit verbundene Angst. Da spürt er sie wieder. Wie damals, als er in den Krieg gehen musste, fort von seiner Frau und den kleinen Kindern. Fort ins Ungewisse. Nicht in die Hoffnungslosigkeit, noch nicht. Vielleicht würde es ja nicht so schlimm werden, hinter den Linien, in der Versorgungseinheit, an irgendeinem uninteressanten, abgelegenen Ort, wo vielleicht gar nicht gekämpft werden musste?
Doch es wurde schlimm, sehr schlimm sogar. Einkesselung, wochenlange Belagerung, massenhaftes Sterben, der Hunger. Schließlich gab es nur noch Todesangst, und heillose Flucht, und dann laufen, laufen, laufen, immer nur weg. Dann die Erschöpfung, der Hunger, und die Gewissheit, endgültig Verloren gegangen zu sein. Weit draußen im russischen Hinterland, mitten im Winter, abgemagert bis auf die Knochen, Mantel und Kleider zerrissen und schmutzig. Fern jeder Ansiedlung, aus Angst vor jeder Begegnung. Bis er schließlich völlig am Ende war. Und fast erfroren. Mit letzter Kraft schleppte er sich zu einem kleinen Bauernhof und klopfte an die Tür. Was auch immer daraus wurde, schlimmeres als der Tod konnte ihm ja nicht mehr passieren.
Und dann das Wunder. Die freundliche Aufnahme, das Mitleid, die Fürsorge. Obwohl man kaum drei gemeinsame Worte sprach. Obwohl man der Feind war. Trotz der vielen Verbrechen, die im Krieg begangen worden waren. Die Stärkung durch das Essen, das man mit ihm teilte. Und vor allem: Er wurde nicht verraten, nicht ausgeliefert, er kam nicht in die mörderische Kriegsgefangenschaft. Schließlich schaffte man ihn mit dem Pferdekarren unentdeckt weit nach Westen, bis er wieder zu den eigenen Leuten gelangen konnte. Damals war er so mit sich selbst beschäftigt, mit dem Überleben, dass ihm sein riesengroßes Glück, die Güte der Menschen, das Ausmaß ihrer Hilfsbereitschaft, ja ihrer Opferbereitschaft gar nicht richtig klar wurde. Aber er hatte diese Tage nie vergessen, und im Laufe seines langen Lebens hatte er genug Zeit zu verstehen.
Der alte Mann, der ihn nach Westen brachte schenkte ihm zum Abschied ein abgegriffenes Blechmedaillon mit einer stilisierten Figur, die ein Kind im Arm hielt. Es war sehr einfach gemacht, und Wilfried wusste nicht, ob es die Heilige Maria oder Sankt Christopherus darstellen sollte, die womöglich das Jesuskind auf dem Arm hielten. Vielleicht war es auch etwas völlig anderes. Doch die Geste rührte ihn, und er verstand, was der alte Mann sagen wollte: Dieses Medaillon sollte ihn auf seinem weiteren Weg beschützen. So wie das kleine Kind auf dem Bild wohlbehütet ist. Es wird dich sicher nach Hause bringen!
Dieses Medaillon hat Wilfried aufgehoben. Es liegt bis heute in seiner Nachttischschublade, neben seinem Bett, im Altenpflegeheim, wo er die letzten vier Jahre verbracht hat. Immer mal wieder hat er es hervorgeholt und betrachtet, oder einfach nur in der Hand gehalten. Und immer ging ein Trost davon aus, auch wenn er sich noch so verloren gefühlt hatte. Aber warum ist es nun nicht hier? Wo hat er es gelassen? Er greift zum Nachttisch, seine Finger suchen in der Schublade. Da ist etwas hartes, Metall. Er fasst es und legt die Hand auf die Brust. Sofort spürt er eine große Erleichterung. Dieses kleine Stück Blech verkörpert die Erinnerung an das größte Wunder einer Rettung, die Wilfried erlebt hat. Jetzt weiß er es wieder: Selbst wenn nichts schlimmeres mehr passieren kann als der Tod, gibt es doch immer irgendwo Rettung.
Mit einem tiefen Gefühl von Dankbarkeit lehnt sich Wilfried in sein Kissen zurück. Das Medaillon fest in der Hand schläft er ein, zum letzten Mal.
Das Bett am Fenster ist leer. Kabel und Elektroden liegen lose verstreut darauf. Der EKG-Monitor ist abgeschaltet. Die Nachtwache kommt frühmorgens auf einem Kontrollgang vorbei. Der Pfleger ist überrascht. Er weiß nichts von einer Verlegung, eine Entlassung war nicht vorgesehen, und von einem Ex weiß er auch nichts. Irgendetwas stimmt hier nicht. Der Infarkt ist verschwunden! Es wird recherchiert, es wird gesucht, und schließlich werden Angehörige und Polizei benachrichtigt. Am nächsten Morgen finden sie Wilfried in seinem Bett, in seinem Zimmer im Pflegeheim. Niemand weiß, wie er es alleine bis dorthin geschafft hat. Sein Gesicht sieht ganz friedlich aus. In seiner Hand fanden sie ein billiges Blechmedaillon.
Er wird damit beerdigt.