Warum sollte man sich über so etwas Simples wie Zeit noch viele Gedanken machen? Ist da nicht schon längst alles gesagt? Zeit, die man nie hat, wenn man sich keine nimmt? Zeit, die alle Wunden heilt? Und ist die Zeit nicht das „Raubtier“, das auf lange Sicht alles verschlingt? Viele kennen vermutlich die mittelalterliche Allegorie des Todes, der als Knochengerüst herumläuft, mit einer Sanduhr in der Hand, um die Seelen der Verstorbenen in das Jenseits zu befördern, weil ihre Zeit abgelaufen ist…
Natürlich ist es für ein durch und durch narzisstisches Wesen wie den „modernen Menschen“ die größte aller Kränkungen, dass er irgendwann einmal sterben muss und damit (hoffentlich jedenfalls) aufhört zu existieren. Egal wie schön er es einmal hatte und egal wie viel er einmal erreicht oder erlebt hat. Und wenn man auch in 20 oder 200 oder, zugegeben in eher seltenen Fällen, in 2000 Jahren noch von ihm spricht und sich an ihn erinnert – irgendwann hört auch das auf. Und was bleibt dann? Nichts als ein Häufchen leicht abgenutzter Atome, die irgendwo weiter im Universum herumschwirren, bis das Universum selbst zusammenfällt.
Zeit hat daran keine „Schuld“. Sie ist nur eine von vielen physikalischen Randbedingungen des uns bekannten Universums, die zu Begreifen uns schwer fällt, weil unsere sensorischen und mentalen Fähigkeiten vor allem dazu geeignet sind, in einer unsicheren Welt mit wechselnden Nahrungsquellen und gefährlichen Beutegreifern lange genug zu überleben, um mit einiger Wahrscheinlichkeit Nachkommen in eben diese Welt setzen zu können.
Mit Blick auf diese mentalen Fähigkeiten ist vielleicht ein Vergleich hilfreich: Zeit ist so ähnlich wie eine brennende Zündschnur. Das Feuer frisst sich die Schnur entlang, die Asche hinten ist die Vergangenheit, die Lunte vorne ist die Zukunft, und das kleine Feuer dazwischen ist die Gegenwart. Es kann nur in eine Richtung weiter brennen, und irgendwann ist die Lunte vermutlich zu Ende. Und dann?
Aber die Zeit ist nicht die Lunte, die Zeit verhält sich nur so ähnlich. Zeit hat keine Substanz. Zeit braucht keine Materie – wobei es schwierig wird, Zeit ohne Materie – und ohne Bewegung – zu bemerken, oder auch nur zu denken. Aber auch das liegt womöglich nur an unserer beschränkten Wahrnehmung. Folgenden Überlegungen sollen das, etwas ironisch, illustrieren.
Die Vergangenheit ist vorbei. Alles, was passiert ist, was gesagt und getan wurde, ist unwiederbringlich vergangen. Vielleicht gibt es Relikte aus vergangener Zeit in unserer Gegenwart. Aber die Vorstellungen, die wir von der Vergangenheit haben, sind im Grunde nur Illusionen über etwas, was nicht mehr existiert: Vergangene Zustände der Welt, vergangene Ereignisse und Prozesse, veraltete Gegenwart sozusagen. Natürlich hat unser Gehirn da eine sehr nützliche Fähigkeit – das Gedächtnis. Anhand unserer Erinnerungen erzeugen wir ein Modell unserer eigenen Vergangenheit. Dabei ist das Gehirn hoch selektiv. Dieses Modell ist nicht die Vergangenheit, sondern im Prinzip nur das, was uns an der Vergangenheit aus irgendwelchen Gründen wichtig war.
Von der Zukunft kann man nicht viel besseres sagen. Unsere Vorstellungen von der Zukunft sind Prognosen über das, was wahrscheinlich demnächst sein wird. Unser Gehirn hat die fantastische Fähigkeit, aus gemachten Erfahrungen, aus Gelerntem, und aus den Zuständen der Gegenwart ein Modell der Zukunft zu entwerfen. Dies funktioniert vor allem kurzfristig sehr gut (wenn man denn alt genug ist). Auf kurzfristige Vorhersagen sind wir spezialisiert: Wird es morgen früh wieder hell werden? Werde ich heute Abend im Berufsverkehr im Stau stehen? Wie wird sich das Wetter in den nächsten Stunden entwickeln? Wie werden sich die anderen Menschen mir gegenüber verhalten? Doch alle Vorhersagen sind nur mehr oder weniger begründete Vermutungen, die tendenziell umso unzuverlässiger werden, je weiter sie in die Zukunft reichen. Und auch wenn unsere Vorstellungen von der Zukunft noch so vernünftig und plausibel sind – sie bleiben eine Illusion, „die Zukunft“ an sich existiert nicht.
Und was ist mit der Gegenwart? Mit der kleinen Flamme, die sich die Lunte entlang brennt? Naja, die Gegenwart ist wie eine dünne Grenzschicht zwischen Zukunft und Vergangenheit. Wie ein hauchdünner Film in dem Prozess, in dem Bewegung passiert und Materie sich verändert. Je genauer man Zeit messen kann, desto dünner wird diese Schicht, dieser Film. Heutige Atomuhren haben eine Genauigkeit von 10 -15 Sekunden. Theoretisch würde mit beliebig genauer Zeitmessung die Ausdehnung der Gegenwart auf einem Zeitstrahl auch beliebig klein werden können, bis sie nur noch ein Punkt mit der Länge Null ist (oder vielleicht der Länge 10 -43 s, der sog. Planck-Zeit).
Kurz zusammengefasst: Die Vergangenheit ist vorbei, die Zukunft ist noch nicht da, und die Gegenwart hat eine Dauer ≈ 0 und ist somit im Großen und Ganzen auch nur eine Illusion. Da sich die Zeit aber aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammensetzt, gibt es Zeit genau genommen gar nicht. Ist Zeit also nur eine Fiktion? Manchmal kommt es mir fast so vor, besonders im Bezug auf „Frei-Zeit“…
Gut, das wird den meisten Lesern vermutlich jetzt eher unsinnig vorkommen. Zumindest scheint diese Sichtweise nicht besonders nützlich zu sein. Es zeigt aber beispielhaft, wie schwer das Phänomen Zeit zu begreifen ist, wenn man erst einmal anfängt, darüber nachzudenken. Übringes: Der „Denkfehler“ an dieser Stelle liegt vermutlich, wie so oft, in der Gleichsetzung ungleicher Kategorien („Vergangenheit + Gegenwart + Zukunft“ = „Zeit“ = „physikalische Größe“).
Subjektiv und gemäß unseres „gesunden Menschenverstandes“ erleben wir das ja auch anders. Die Gegenwart, der „Augenblick“ dauert bei uns, je nachdem wie schnell sich die Dinge um uns herum verändern, eine Sekunde, einen Herzschlag, vielleicht auch mal zwei oder drei. Vermutlich hat es damit zu tun, wie schnell unser Gehirn arbeitet und unsere Sinneseindrücke und Erinnerungen verarbeitet. Gewohnheitsmässig bezeichnen wir die Gegenwart auch als „heute“, „jetzt“, „Moment“ – also als eine vage umrissene Zeitspanne, innerhalb welcher wahrscheinlich bestimmte Rahmenbedingungen, welche wir implizit oder explizit dazu denken, einigermassen konstant bleiben (werden). Das Datum zum Beispiel, die Tageszeit, der Ort an dem wir uns gerade aufhalten, oder die Tätigkeit, die wir gerade ausüben. Im Alltagsgebrauch umfasst unsere „Gegenwart“ also nicht nur den aktuellen Augenblick, sondern auch die unmittelbare Zukunft, sofern sich diese nicht allzu sehr vom momentanen Zustand unterscheidet.
Nebenbei bemerkt: Ohne Zeitgefühl, ohne Nachklang der vorangegangenen Momente und ohne Erwartungen bezogen auf die kommenden, würde unser Bewusstsein nicht so funktionieren wie wir es gewohnt sind. Wir wären uns der meisten oder aller Veränderungen um uns herum nämlich gar nicht bewusst. Und wir würden im Straßenverkehr ohne fremde Hilfe nicht eine Minute überleben. Nur „im Augenblick zu leben“ ist vielleicht im Meditationszimmer vorübergehend eine gute Idee, aber generell sicher keine Strategie mit Zukunft ?.
Subjektiv ist Zeit aber vor allem „endlich“, und daher in einem existenziellen Sinn eine der wertvollsten Ressource, die wir haben – sagt zumindest der „moderne Mensch“. Lebens-Zeit ist ja die Voraussetzung für alles andere, und ohne Zeit ist alles nichts. Gut, ähnliches kann man allerdings auch von Luft, Wasser, Nahrung, Wärme, Zuwendung, Geborgenheit usw. sagen. Zeit im kalten Vakuum des Weltraums ist für sich genommen noch nicht viel wert.
Was dann zu der Frage führt: Wenn Zeit schon nicht das Wichtigste im Leben und schon gar nicht das einzig Wichtige ist, wie wichtig ist Zeit für uns tatsächlich? Vor allem im Verhältnis gesehen zu anderen Qualitäten und Ressourcen, die unser Leben „lebenswert“ erscheinen lassen? Was ist ein „gutes“ Leben? Ja klar, das Thema ist wahrscheinlich genauso abgedroschen wie die Frage nach der Zeit. Aber ein „gutes“ Leben definiert sich wohl kaum allein über seine Länge, also über eine möglichst große Menge an Zeit. Die Fixierung des „modernen Menschen“ auf die Maximierung seiner Lebenszeit geht irgendwie am Thema vorbei…
(Titelbild aus Wikipedia unter CC BY-SA 3.0)